Die Welt, das Ich und die Krise

Einige Bürger stellen sich aktuell drei wichtige Fragen: was steckt hinter den Krisen der jüngeren Vergangenheit, warum ist ein differenzierter Dialog darüber so schwierig oder unmöglich und was kann ich tun? Das Buch „Die Heldenreise des Bürgers. Vom Untertan zum Souverän“ von Raymond Unger beleuchtet alle drei Fragen zugleich.

Unger, Jahrgang 1963, ist Künstler mit therapeutischer Ausbildung und Praxis. Dieses Buch stellt die Quintessenz seiner bisherigen Bücher dar, in denen er sich mit dem transgenerationalen (also generationsübergreifenden) Trauma aufgrund des zweiten Weltkrieges, den großen Krisen der letzten Jahre (Flüchtlinge, Corona, Ukraine, Klima) und der Heldenreise des Künstlers auseinandergesetzt hat. Die Darstellung der von ihm als notwendig erkannten Heldenreise basiert auf dem universellen, aus Geschichten aller Kulturen bekannten Monomythos, der wesentlich geprägt ist von Joseph Campbell und seinem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ (1949).

Die Notwendigkeit für das aktuelle Buch entstand für Unger auf seinen Vortragsreisen. Die Zuhörer teilten seine Analysen, waren aber ratlos angesichts der eigenen Wirksamkeit, der Frage: Was kann ich tun?

Inhalt

Methodisch pendelt Unger in den einzelnen Kapiteln zwischen Betrachtungen des Individuums (dem Ich) und der Welt. Er analysiert zunächst die Corona- und Ukrainekrise und ordnet sie als eine generelle Politikkrise ein. Obwohl es andere Bücher gibt, die das ebenfalls tun, erzielt Unger in seinen Betrachtungen eine gute Balance aus Tiefe und Umfang, die den weiteren Ausführungen den nötigen, Kontext geben.

Darauf folgt die Darstellung des Monomythos mit seinem generischen Ablauf – vom Ruf des Abenteuers im kargen Land mithilfe eines Boten, über die Weigerung, den Aufbruch, dem Kampf mit dem Drachen, der Initiation, den Feinden, dem Verlassen der Eltern, dem Rückweg und dem anschließenden Dienst als Held für andere. Der Held erkennt laut Unger auf dieser Reise sein „höheres Selbst“, das ihn durch sein persönliches Schicksal führt. Der Autor zeigt auf, dass das zeitgenössische, materialistische Weltbild dem Menschen gerade diese Würde nicht zugesteht. Der Mensch sei darin ein „ineffizienter, schwächelnder Algorithmus, der froh sein kann, wenn ihn die Industrie (…) so bald wie möglich optimiert“ (Seite 200). Begriffe wie Technokratie und Transhumanismus spielen dabei eine wichtige Rolle. Die mediale Vermittlung dieser Weltbilder geschieht sehr wirkungsvoll, da das Publikum aufgrund von Massenbildung von Meinung und einer überkompensierten Kollektivschuld („Schuldstolz“) gut darauf vorbereitet sei.

Daraus leitet Unger die Verantwortung des Einzelnen ab, dem entgegenzuwirken. Er konstatiert, dass ohne ein metaphysisches, inneres Getragensein, eine Verantwortungsübernahme des Bürgers unmöglich ist und stützt sich dabei im Wesentlichen auf Erkenntnisse von Victor Emil Frankl und Carl Gustav Jung. Der verantwortliche Bürger habe inmitten der großen (heldenhaften) Aufgabe Schöpferkraft zu entwickeln. Die vorher beschriebene Heldenreise des Bürgers steht auch für die Heldenreise des Künstlers, des schöpferischen Menschen in ihm. Joseph Beuys ist dafür mit seiner Formel „Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit“ eine wichtige Inspiration. Der Weg zu diesem schöpferischen, mutigen Sein, das über das Bekannte hinaus zu gehen vermag, geht für Unger über die selbstkonfrontative Kunst und das autobiografische Schreiben. Kunst und Therapie sind in dieser Betrachtung zwei Seiten der gleichen Medaille. Unger beschreibt auch, wie es nicht zu machen ist: intellektualisierend (Konzeptkunst), vermeidend (dem Wesentlichen aus dem Weg gehen) und regressiv, d. h. sich überfordernd auszuagieren. In diesem Teil des Buches greift Unger auf seine Erfahrungen als erfolgreicher Maler im Kunstbetrieb zurück und spart nicht mit Kritik. Sein romantisches Genieideal will nicht so recht in die berechnende und letztlich materialistische Kunstwelt passen.

Resümee

Unger hat sich eine große Aufgabe gestellt, indem er sowohl umfassend analysiert als auch eine Lösung anbietet. Das gelingt ihm gut. Er adressiert Menschen, die bereits erkannt haben, dass etwas zu tun ist und bietet eine Lösung, die beim einzelnen ansetzt – also dort, wo jeder wirksam werden kann. Damit macht er ein Angebot, das einen möglichen Weg aus Lethargie und empfundener Hilflosigkeit darstellt.

Weist die Kunst den Weg aus der Krise? Jeder, der mit diesem Anspruch hadert, sei daran erinnert: es geht um das schöpferische, gestalterische Potential jedes einzelnen, nicht um Erfolg am Kunstmarkt. Es geht Unger darum, Menschen entlang der eigenen Möglichkeiten wirksam werden zu lassen – egal wo und egal mit welchen Aktivitäten und Projekten. Der Weg dahin führt über die Individuation, die Ich-Werdung.

Vielleicht ist jetzt die Zeit für Beuys‘ Utopie „Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit“ gekommen. Das Buch von Raymond Unger zeigt die Aktualität dieser Idee.

Quelle: „Die Heldenreise des Bürgers. Vom Untertan zum Souverän“ von Raymond Unger (Europa Verlag, 2023, 25 EUR)

Von
Kai Nörtemann