Von Alexander Ambronn

Diese Gesellschaft, ja unsere Welt, steht vor einem gewaltigen Umbau. Noch ist völlig unklar, wohin uns dieser Umbau führen wird. Noch ist nichts entschieden. Wir alle sind aufgerufen, uns an der Gestaltung zu beteiligen. Seit 2020 überlege ich, wie ich mich einbringen kann, welchen Beitrag ich selbst leisten kann. Doch lange stellt sich keine zündende Idee ein. Dann lerne ich im Januar 2023 Michael Meyen kennen. Meyen, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Uni München, hält einen Vortrag über die öffentlichen Medien. Und plötzlich habe ich eine Idee.
Meyen spricht schnell, spult seinen Vortrag in einer Stunde im Stakkato ab. Professor eben! Meyen, auf Rügen, hat Journalismus von der Pike auf gelernt, in Leipzig studiert, promoviert, sich habilitiert. Seit 2002 ist er ordentlicher Professor in München. Er kennt den Journalismus aus der Praxis und als forschender Hochschullehrer aus der Metaperspektive.
Ein Satz mitten im Vortrag elektrisiert mich: Meyen kündigt an, dass er ein Seminar anbietet für Menschen ohne journalistische Ausbildung, die schreiben wollen. Kompaktkurs Journalismus nennt er das. Journalismus lernen in dreieinhalb Tagen. Schreiben wollte ich schon immer, ein Buch vielleicht, aber irgendwas hat mich davon abgehalten. Erst war es der Job, die fehlende Zeit und jetzt in der Rente stehen Zweifel am Talent im Weg. Texte sind mein Ausdrucksmittel. Darüber kann ich Menschen erreichen.
Denn wohin ich blicke, sehe ich nur Zuschauer, die auf den Rängen der Arena sitzen, während unten einige wenige Akteure die neue Ordnung ausrufen. In der Loge vielleicht ein paar Grantler wie in der Muppet-Show. Ich will, dass sich Menschen real vernetzen anstatt digital, etwas tun, anpacken, Projekte starten, einen Kindergarten gründen, eine Kreislaufwirtschaft als Genossenschaft anschieben, eine Bürgerinitiative ins Leben rufen. Beispiele gibt es genug, doch sie sind kaum bekannt. Genau darüber will ich berichten. Es muss regional sein. Beispiele aus der Umgebung zum Anfassen. Etwas, womit sich andere Menschen in der Region identifizieren können.
Ein paar Tage später melde ich mich an. Ich muss ein Bewerbungsschreiben einreichen. In einer E-Mail fasse ich zusammen, warum ich dahin will und werde angenommen. Elf Teilnehmer aus ganz Deutschland treffen sich im April 2023 im Bayerischen Wald. An einem Mittwoch geht es los. Samstagabend klingt das Seminar mit einem Abendessen aus.
Zum Seminar bringe ich die Idee für Regio83 mit. Ein Nachrichtenportal, das aus der Postleitzahlenregion 83 berichtet und andere zum Mitmachen anregt.
Vor allem will ich über Positives schreiben, nicht über Katastrophen, Tote und Verletzte. Möglichst neutral, objektiv und faktenbasiert sollen die Artikel sein. Personen aus der Region will ich interviewen, Menschen, die sich für das Gemeinwesen engagieren. Fachleute, die zu interessanten Themen Stellung beziehen.
In den wenigen Tagen lernen wir bei Meyen und seiner Frau, ebenfalls Journalistin, wie man Thema und Absicht eines Artikels formuliert, was ein Teaser ist, wie man recherchiert, wie man ein Interview vorbereitet, analysieren Beispieltexte, schreiben selbst erste kurze Artikel. Wir lernen statt schmückender Adjektive lieber starke Verben zu verwenden. Einfache, starke Sprache. Fremdwörter nur dort, wo es unumgänglich ist. Schachtelsätze sind tunlichst zu vermeiden. Klemmkonstruktionen seien für den Leser schwer verständlich und daher umzuformulieren. Überhaupt wird uns beigebracht, dass das Redigieren eine der wichtigsten Arbeiten ist. Laut vorlesen, umschreiben, kürzen, präzisieren. Trifft die Formulierung wirklich, was ich ausdrücken will? Versteht der Leser das?
Abends rauchen uns die Köpfe.
Während des Seminars greift Meyen Regio83 immer wieder auf, sagt Sätze wie: “Wenn das dann in Regio83 veröffentlicht wird“. Irgendwie hört sich das gut an. Ich spüre, wie mich der Gedanke immer mehr gefangen nimmt. Zumal Meyen anbietet, das Projekt mit Feedback zu begleiten.
Nach drei Tagen Kompaktkurs bin ich noch kein Journalist. Doch der Gedanke lässt mich dennoch nicht mehr los. Wieder zu Hause sichere ich mir sofort die Domain (https://www.regio82.de), schreibe ich ein Konzept für „Regio83“, überarbeite es, verfeinere es immer mehr, bis ich richtig überzeugt bin: das ist es! So will ich es machen!
Dann kommen die Zweifel. Will ich mir das wirklich antun? Seit zwei Jahren bin ich im Ruhestand, habe 41 Jahre gearbeitet und fünf Jahre studiert. Ich habe so viel vor: Bergtouren im bayrischen Voralpengebiet, Kajaktouren auf der Mecklenburgischen Seenplatte, das Leben genießen. Soll ich das alles sausen lassen für ein regionales Nachrichtenportal?
Doch das Thema lässt mich nicht mehr los. Ich stehe am Anfang. Noch habe keine Ahnung wie ich beginnen soll. Was ist ein Blogger? Was ist ein Content Management System (CMS)?
Als Kind der 50iger Jahre bin ich nicht mit dem Computer aufgewachsen. Ich muss alles neu lernen. Dabei will ich eigentlich nur schreiben. Ich sehe mir Beispielseiten im Netz an. Wie machen das andere? Worauf muss ich achten? Trockene Themen, wie Datenschutz und Impressum, müssen gelöst werden, sonst kann es teuer werden.
Ich sehe einen Berg vor mir und bin kurz davor, zu kapitulieren. Dann stoße ich auf den Blog-Artikel
„Bloggen lernen“ (https://judithpeters.de/blogartikel-schreiben-wordpress/),
den eine erfahrene Bloggerin aus dem Stuttgarter Raum eingestellt hat. Eine komplette Anleitung. Nicht direkt zugeschnitten auf ein Nachrichtenportal, aber es ist alles enthalten, was ich wissen muss. Selbst Hinweise zu Datenschutz und Impressum mit Verweis auf die rechtlichen Bestimmungen fehlen nicht. Alles ist einfach und verständlich erklärt. Ein CMS wird empfohlen. Das brauche ich, um meine Inhalte überhaupt ins Netz zu stellen. Plugins und Widgets sind Begriffe, von denen ich bis dahin nie etwas gehört hatte. Dank des Artikels gelingt es mir, innerhalb von drei Tagen mein Nachrichtenportal zu konfigurieren. Gut, es ist nicht gerade ein außergewöhnliches Design, was ich da zusammenfabriziert habe, aber ich finde es ganz ansehnlich für den Anfang. Geld für einen Webdesigner, der mir zu einem professionellen Auftritt verhilft, habe ich ohnehin nicht. Es muss mit Bordmitteln gehen.
Ich schreibe – etwas aus der Hüfte – zwei Beiträge und stelle meinen Nachrichtenblog „Regio83“ am 9. Juli 2023 ins Netz.
Jetzt fehlen nur noch die Leser. Und das ist zugleich mein Glück. Denn damit die Leser regelmäßig wiederkommen, muss ich kontinuierlich Beiträge einstellen. Ich habe in meinem Konzept die Idee einer „Wochenzeitung“ entwickelt. Einmal in der Woche will ich Neues einstellen. Michael Meyen hat mir auch diesen Tipp gegeben, hält es für wichtig, denn sonst melden sich die Leute gleich wieder ab. Das deckt sich mit den Tipps anderer Blogger, von denen ich im Netz lese.
Aber allein schaffe ich das nicht. Ich brauche Menschen aus der Region, die für meinen Blog schreiben. Aber wer schreibt schon für einen unbekannten regionalen Nachrichtenblog? Das scheint nicht mein Hauptproblem zu sein. Es finden sich Leute. Etwas zögerlich, aber die Bereitschaft ist durchaus vorhanden. Freunde und Bekannte unterstützen mich, stellen Verbindungen her. Themen, die in meinen Blog passen, gibt es zuhauf. Die Artikel müssen kurz sein. Das ist eine meiner Vorgaben, sowohl an mich selbst, als auch an Autoren. Denn ich stelle weder Videos noch Podcasts ein. Lange Texte werden nicht gern gelesen. Alles muss kurz und knapp auf den Punkt formuliert sein.
Den Aufwand habe ich deutlich unterschätzt. Denn ich bin alles in einer Person: Chefredakteur, Redakteur, mache die Recherche, redigiere fremde Texte, verhandele mit Menschen, die für mich schreiben wollen, plane Artikel und Interviews. Ich habe nicht gewusst, wie zeitaufwändig das ist. Es ist kaum zu schaffen, jede Woche einen Artikel einzustellen. Ein bisschen Freizeit will ich schließlich auch noch haben. Immerhin ist Sommer!
Noch vor dem Start gewinne ich gute Bekannte für eine Redaktionskonferenz. Das ist wichtig für mich. Ich brauche kritisches Feedback. Außerdem bringen die anderen Themen ein und helfen mit ihren Kontakten, Autoren, Fachleute und Experten zu finden, die schreiben wollen. Mittlerweile habe ich einiges in der Pipeline, habe über dies und das schon berichtet.
Dann kommt der erste Rückschlag. Gleich bei der zweiten Redaktionskonferenz kommt es zum Richtungsstreit. Es wird über die Ausrichtung diskutiert, über mein Konzept, das den anderen zu wenig politisch ist. Da muss mehr gegen die Großen geschrieben werden, da müssen Missstände angesprochen werden. Aber ich kämpfe für mein Konzept. Das will ich mir nicht aus der Hand nehmen lassen. Am Ende stehe ich dann allein da. Die anderen machen nicht mehr mit. Das wirft mich zurück auf Anfang. Ich muss neue Mitstreiter suchen, die meine Linie unterstützen. Also mache ich erstmal eine Pause.
Wenn ich Menschen auf Regio83 anspreche und erkläre, was ich beabsichtige, erfahre ich Zuspruch. „Das ist ja ein tolles Projekt. So etwas gibt es noch nicht. Das muss es geben.“ Diese Reaktionen ermutigen mich, weiterzumachen. Ich scheine auf dem richtigen Weg zu sein. Das wird mein Ding!
Aber mir ist auch klar, dass es ein langer Weg werden wird. Ich brauche mindestens ein Jahr, bis sich Regio83 etabliert hat. Themen gibt es genug. Daraus werden Artikel. Doch es braucht auch Leser. Wie mache ich Regio83 bekannt? Zu all den anderen Aufgaben muss ich mich auch noch um das Marketing kümmern. Es hat mich gepackt, ich kann nicht zurück, werde nicht aufgeben.
Ich bin gespannt, was in einem Jahr daraus geworden ist. Und ob ich mich dann Journalist nennen kann.
Eines aber ist sicher: ohne Professor Meyen und das Seminar im April im Bayrischen Wald, würde es Regio83 nicht geben, wäre ich nie Journalist geworden.
Wer auch Journalist werden möchte, kann sich hier bewerben: https://www.freie-medienakademie.de/angebot_2023_2024