Lernen von Seymour Hersh

von Mirko Jähnert

Seine Memoiren, was Journalismus ausmacht und eine unerwartete Konversation.
Er ist einer der ganz Großen im Journalismus, vielleicht DER investigative Journalist unserer Zeit. Seymour Hersh ist den Regierenden auf die Füße getreten. Seine Artikel konnten politische Erdbeben auslösen. Ein Grund, mich mit seinem Wirken, festgehalten in einem lesenswertem Buch, auseinanderzusetzen.

Sicher, der Name Hersh war mir ein Begriff, ohne dass ich hätte sagen können warum. Erst nach seiner Recherche zur Sprengung der Nordstream-Pipeline (1), informierte ich mich mehr über die Arbeit des Investigativjournalisten. My Lai, Watergate, CIA – und immer wieder Seymour Hersh. Ich legte mir sein Buch „Reporter – Der Aufdecker der amerikanischen Nation“(2) zu. Außer der Biografie der Hauptperson findet man viel Lernstoff für eigene journalistische Arbeit, was ich im Folgenden besonders hervorhebe.

Die Einleitung des Buches gerät zu einer Abrechnung mit dem heutigen Journalismus. Hersh stellt selbst die Frage. Wäre eine kritische, tiefgehende Berichterstattung, wie er sie ein Leben lang praktizierte, heute überhaupt möglich? In Zeiten einer 24/7 von Online-Nachrichten und sozialen Medien dominierten Welt, schwer vorstellbar. Der Journalismus ist schneller, aber nicht besser geworden.

Seymour Hersh, 1937 in Chicago geboren, fand in seiner Studienzeit an der University of Chicago sein Interesse an der Weltpolitik. Mit Journalismus hatte er, abgesehen von den Kreuzworträtseln in der New York Times, noch nichts zu tun. Es sollte eine Weile dauern, bis er seinen ersten Job bei der Chicagoer City News begann. Anfangs als Bürobote angestellt, schaffte er es durch Neugier zum Einsatz als Lokalreporter. Doch auch Hersh musste lernen, worauf es im Journalismus ankommt:

 „Erster zu sein ist nicht halb so wichtig wie Fakten zu überprüfen und gründlich zu sein.“ (3)

Nach seiner Zeit bei der Armee verdingte er sich bei diversen lokalen Wochenzeitungen. Sein Ehrgeiz machte ihn bald zum Berichterstatter bei AP. Es war für Hersh leicht interessante Geschichten zu finden. Und er eckte an. So schrieb er über Polizeikorruption und Verletzung von Bürgerrechten.

Mehr und mehr rückte der Vietnamkrieg in das Interesse der Öffentlichkeit. Ein Thema, das für Seymour Hersh´s Karriere noch wichtig werden sollte. Um dichter an Regierungsbelangen dran zu sein, ließ er sich von AP in die Hauptstadt Washington versetzen. Als Neuling musste er sich anfangs mit dem Redigieren der Nachrichten anderer Reporter begnügen. Beim Umschreiben der Artikel ging er aber weiter. Er versuchte die Hauptakteure persönlich zu sprechen und die Themen tiefer zu beleuchten. Schließlich durfte er ab 1966 als richtiger Reporter arbeiten. Er nahm an Pressekonferenzen des Pentagon teil und erkannte bald, dass die Aussagen zum Verlauf des Vietnamkrieges widersprüchlich waren. Hersh hatte sein Thema gefunden. Sein Ziel war es, die Wahrheit über diesen Krieg zu berichten. In seiner Zeit als Pentagon-Korrespondent lernte er, die Menschen zu finden, deren Amtseid der Verfassung und nicht dem Vorgesetzten galt und ihn auf Missstände hinwiesen. Hersh stellt fest:

„Die Hauptlektion eines jeden Journalisten – lies, bevor du schreibst…“ (4)

 Ein guter Journalist sollte sich also ausführlich über die Themen informieren, über die er berichtet.

Eine Stärke von Hersh war es, Vertrauen zu Wissenschaftlern, Armeeangehörigen oder Geheimdienstlern herzustellen. Aus diesen Kontakten konnte er später wertvolle Hinweise für seine Arbeit generieren. Unter anderem bekam er im September 1969 einen Hinweis auf ein Massaker im südvietnamesischen Dorf My Lai. Hersh recherchierte, studierte Zeitungsberichte und sprach mit Beamten im Regierungsumfeld. Er fand einen beteiligten Soldaten und konnte somit aufdecken, dass durch die US-Armee dort mehr als 500 Zivilisten zusammengetrieben und niedergemetzelt wurden. Für diese Berichterstattung erhielt Hersh 1970 den Putlitzerpreis für Auslandsberichterstattung. Der Journalist war nun bekannt und begann im Mai 1972 bei der renommierten New York Times zu arbeiten. Dort berichtete er weiter über den Krieg, z.B. die verbotenen Bombardierungen ziviler Ziele. Er deckte auf, dass US-Außenminister Kissinger Journalisten abhören ließ und schrieb über den Watergate-Skandal. Das größte Aufsehen erregte jedoch sein Artikel vom Dezember 1974 über die illegalen CIA-Spionageoperationen gegen Kriegsgegner in den USA.

„Harte und geduldige Arbeit mithilfe von Insiderinformationen.“(5)

 beschreibt Hersh sein Vorgehen in diesem Fall.

Mir wurde beim Lesen von „Reporter“ klar, dass ich eine Rezension zum Buch schreiben würde und ich hatte eine Idee. Wäre es möglich, dem großen Seymour Hersh ein paar Fragen stellen zu können? Zu seinem Lebenslauf oder gar zu Nordstream? Ich tat es einfach, fand einen Weg eine Mail zu schreiben und fragte nach. Daraus entstand eine kurze Konversation, die ich nicht für möglich gehalten hätte: „Persönliche Fragen? Eher nein, zu den Pipelines auch nicht. Aber zu Journalismus, Feuer frei!“ Das war aufregend. Ich kommunizierte gerade mit der Legende des investigativen Journalismus! Ich formulierte etliche Fragen in meiner Mail. Zu viele, wie er mir zu verstehen gab. Ich lies nicht locker und kürzte auf drei Fragen, die ich für Neulinge wie mich interessant fand und bekam den ersten Tip gleich in der Antwort:

well, you’ve got the first lesson done..be very aggressive..

Dran bleiben, hartnäckig sein!

1979 verließ Hersh die New York Times und arbeitete wieder freischaffend. Er begann mit der Arbeit an einem Buch über Henry Kissinger. Auch dabei galten für ihn journalistische Kriterien:

„Lies bevor du schreibst, finde diejenigen Menschen, die die Wahrheit kennen, oder eine Wahrheit, und lass die Fakten für sich sprechen.(6)

Es folgten weitere Bücher und eine kurze Zusammenarbeit mit Filmemacher Oliver Stone. Nach einiger Zeit kehrte er zurück zu seinem Metier, lange recherchierte Artikel zu verfassen.

Nach 9/11 befasste sich Seymour Hersh intensiver mit dem Nahen Osten. Er berichtete über Afghanistan und den Krieg im Irak. Wieder mal gelang Hersh ein großer Wurf. Er deckte die Folter an irakischen Kriegsgefangenen durch Soldaten der US-Armee im Gefängnis Abu Ghraib auf. Er blieb danach thematisch in der Region. Mehrmals interviewte er beispielsweise den syrischen Präsidenten Baschar Assad.

Am Ende des Buches zieht Hersh Bilanz. So sagt er,

„Ich habe nie ein Interview geführt, ohne zuvor alles über meinen Interviewpartner zu erfahren, was mir möglich war…“(7),

und schließt zusammenfassend ab mit einem Satz, der den heutigen  Mainstream-Journalismus alt aussehen lässt:

„Ich habe den Großteil meiner Laufbahn damit verbracht, die offiziellen Narrative infrage zu stellen, und ich bin dafür in größtem Maße belohnt und nur wenig bestraft worden. Ich würde es nicht anders machen wollen.(8)

Auf meine Fragen hat Hersh nicht mehr reagiert. Die Antworten aber, habe ich in seinem Buch gefunden.

Seymour Hersh ist immer noch als Journalist aktiv. Wer wissen möchte, was er zu sagen hat, kann ihm auf der Autorenplattform Substack folgen.(9) Hier ist er frei von redaktionellen Zwängen und hat direkten Draht zu den Lesern. Manchmal auch sehr direkt, wie ich erfahren durfte.

(1) https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
(2) https://www.buchkomplizen.de/buecher/medien/reporter.html?listtype=search&searchparam=Reporter
(3) „Reporter“, Seite 28
(4) ebd., Seite 82
(5) ebd., Seite 263
(6) ebd., Seite 321
(7) ebd., Seite 418
(8) ebd., Seite 421
(9) https://seymourhersh.substack.com/

Der Beitrag erschien zuerst auf
https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/87

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